Wie die anderen

Im Direct Cinema Verfahren beobachtet Christian Wulff die Geschehnisse in einer niederösterreichischen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dass Wie die anderen für viele ein Schockerlebnis sein wird, ist nicht nur der Thematik geschuldet, sondern auch auf die an manchen Stellen moralisch gefährliche Offenheit im Umgang damit zurückzuführen.

Die Idee des Direct Cinema beruht auf einer Art unsichtbaren Kamera, die als stiller Beobachter fungiert. Das beinhaltet auch, dass die Filmemacher im Vorhinein keine Dramaturgie festlegen, sondern sich vollends auf das gesammelte Material einlassen. In Wie die anderen ist dieses Verfahren nahezu perfektioniert, tatsächlich fühlt man sich als Zuseher oft wie der zusätzliche Teilnehmer eines intimen Gespräches. Voyeuristisch wirkt der Film dennoch nicht, zu souverän gehen die ProtagonistInnen mit der scheinbar kaum wahr zunehmenden Anwesenheit der Kamera um.

Subtiler Schock

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Das Ergebnis dieser stillen Beobachtung ist ein extrem hohes Level an Authentizität, das sich sowohl in den Gesprächen der BetreuerInnen untereinander, als auch in deren Behandlung ihrer jungen PatientInnen wiederspiegelt. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie im niederösterreichischen Tulln erwacht hier mit all seinen Facetten zum Leben, was sich für das Publikum emotional durchaus schwierig gestaltet. Keine zwanzig Minuten ist der Film alt, als die  Betreuer intern erstmals über die Hintergründe eines verletzten Mädchens beraten, bei dem ein auffällig ausgedehntes Jungfernhäutchen und ein Analriss festgestellt wurden. Das sorgt erstmal für einen kollegialen Kinoschock, ganz ohne einen billigen Aufreger forcieren zu müssen.

Wenn PatientInnen dann doch gezeigt werden, geschieht dies zumeist in einem weitaus ruhigeren Ton, repräsentiert durch die zwei wesentlichsten ProtagonistInnen. Dies ist zum einen eine sprachlich begabte, jugendliche Abhängige mit Hang zur extrovertierten Haarpracht, die sehr kompetent über ihr eigenes Leben reflektiert. Und zum anderen ist da eine 18jährige, deren Arme komplett mit Schnittwunden übersät sind und die kaum in der Lage ist, ihren Gefühlen sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Die zwei Mädchen könnten unterschiedlicher kaum sein, wesentlich weiter scheint im Verlauf des Filmes keine der beiden zu kommen. Nur zu gut lässt sich so der Frust verstehen, den die BetreuerInnen in intensiven Gesprächsrunden miteinander teilen. Der Schock selbst ist eher subtiler Natur, etwa wenn ein kleiner Junge zu Therapiezwecken mit Spielzeug eine Szene darstellen soll. Er entscheidet sich für eine Situation, in der sich ein Kind vor einem “bösen Mann” versteckt, der ihn besuchen möchte.

Seidl-Alarm?

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Zumindest einmal gerät Wie die anderen dann aber doch in Fahrwasser, wo die Moral etwas dünn zu werden droht. Wir werden Teil einer Diskussion über eine Patientin, die sich wehrt, ihre Medikamente einzunehmen und zunehmend ihren Wahnvorstellungen verfällt. Subtil gleitet die Kamera über den Schreibtisch und erhascht auf einem kleinen Überwachungsmonitor Bilder der Jugendlichen, als sie von den behandelnden Ärztinnen fixiert werden muss und wütend herumstrampelt. Der leidgeprüfte österreichische Filmrezensent kann nicht anders als an die dünne Sensationsgeilheit Ulrich Seidls zu denken, zudem Wulff mit diesem bereits zusammengearbeitet hat.

Aus rechtlicher Sicht ist die Szene natürlich abgesichert, auch moralisch ist sie nicht vollkommen verwerflich. Schließlich ist es dem Film ein großes Anliegen, ein komplettes Bild der Psychiatrie zu zeigen. In unserer von Massenmedien geprägten Welt haben Anstalten wie jene in Tulln vielerorts einen, gelinde gesagt, bescheidenen Ruf. Nicht zuletzt die Filmbranche hat einiges dazu beigetragen, dass Psychiatrien von vielen Menschen als Einrichtungen missverstanden werden, in denen man Menschen oft unwürdig behandelt. Dass genau das Gegenteil der Fall ist, und extreme Maßnahmen wie das Fixieren – also quasi Festbinden – von PatientInnen manchmal unvermeidlich sind, zeigt Wie die anderen sehr gut auf. Dadurch entsteht ein vielschichtiges Portrait, in dem gerade das vermeintlich Unmenschliche einen sehr humanen Charakter bekommt.

Schock mit Sinn

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Generell schockiert der Film nicht des Schockes wegen, sondern ist eher als Aufklärungsfilm für jene Menschen zu verstehen, die sich mit dem, was hinter den Mauern einer Psychiatrie passiert, bislang nur in Form von Horrorfilmen beschäftigt haben. In dieser Funktion ist Wulffs Dokumentation absolut nichts vorzuwerfen, lediglich ein übergeordnetes weiterführendes Thema wird vermisst. Der Titel des Filmes referenziert den Druck der Betroffenen, wieder in die Gesellschaft zurück zu finden, wenn es sein muss sogar auf Kosten der eigenen Persönlichkeit. Während der 95 Minuten Laufzeit selbst, wird dies aber nicht stark genug herausgearbeitet, um sich als grundlegende Problematik zu etablieren.

Am ehesten könnte man noch eine politische Komponente erkennen, die sich aber fast ausschließlich in einer einzigen Szene zeigt. In dieser wird der Primar der Einrichtung, Paulus Hochgatterer, von seinen MitarbeiterInnen mit der verheerenden Personalsituation konfrontiert. Auf die Frage wie sich die steigende Anzahl an PatientInnen mit dem kleinen Betreuerstab vereinen lasse, hat er keine Antwort. Am Ende bleibt dem wortgewandten Chef nur ein signifikantes Schweigen, auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie kann eben nicht die ganze Welt retten.

Fazit (Michael):

Film: Wie die anderen
Rating:

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Empfehlenswert (3 / 5)

Wie die anderen vermag es nicht, übergeordnete Fragen in den Raum zu stellen, ist aber dennoch ein sehr gelungenes Portrait einer oft missinterpretierten Einrichtung. Nichts geringeres als die Welt ein bisschen besser zu machen, nimmt sich die Tullner Psychiatrie vor. Genau das, sowie die Kompetenz der dahinter stehenden Akteure, arbeitet der Film wunderbar heraus.

Michael Verfasst von:

Autor, Editor, Public Relations Michael ist der Arthouse Hipster des Teams, dessen Korrektheit und ruhige Art dafür sorgen, dass die Diskussionen immer fair bleiben und Beleidigungen nur zulässt, wenn sie mit Fakten belegt werden können.

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